Palmer :Black Notice

Leseprobe Fortsetzung

 

 

Aber dieses Café bot den Schutz der Menschenmasse und zugleich den besten Überblick, und das war alles, was er heute brauchte.

Zunächst hatte sich der Anrufer gesträubt, ihn in der Öffentlichkeit zu treffen, aber Mark hatte ihn beruhigen können. Wo versteckte man am besten ein Sandkorn? Am Strand, natürlich. Und die Orchard Road am Abend war für einen Menschen wie der Strand für ein Sandkorn. Sie machte ihn unsichtbar.

Das Café war rundherum offen, mit Dach, aber ohne abtrennende Wände, ohne Fenster. Typisch für diese Stadt, in der es immer warm war und schwül. Die Vorhänge, tagsüber baumelten sie lose von der Decke und schützten vor Sonne oder Regen, waren jetzt hochgezogen; eine Klimaanlage und drei Ventilatoren an der Decke kühlten die Luft im Café und noch zwei Meter außerhalb auf dem breiten Gehsteig. Eine Energieverschwendung, wie sie auch typisch war für diese obszön reiche Stadt.

Das Café war gut besucht und das Publikum, wie Mark mit schnellem Blick erfasste, gemischt. Männer, Frauen, die meisten von ihnen Chinesen und Westler, dazu zwei Japaner in Anzügen, eine Gruppe Inder, hinten in der Ecke saßen drei vollverschleierte Frauen. Sie alle tranken und aßen und fingerten an ihren Telefonen und Tablets. Nur wenige unterhielten sich. Niemand achtete auf ihn.

Alles okay.

Fast.

Verschleierte Personen machten Mark unruhig seit jenem Tag vor nunmehr zwanzig ... nein, einundzwanzig Jahren bereits, mein Gott, die Zeit ... als eine verschleierte Frau unter ihrem Gewand eine Zweiundzwanziger mit Schalldämpfer hervorzog und auf ihn richtete.

Also ein zweiter Blick auf die verschleierten Frauen: Füllig unter ihren schwarzen Gewändern, die Hände mit Henna rot bemalt; unter dem Tisch alte Füße nackt in ausgelatschten Sandalen.

Nein, sie waren nichts anderes als alte, dicke, verschleierte Frauen.

Er würde keiner von ihnen in den Kopf schießen müssen, so wie damals.

„Ich kann mir alleine einen Sitzplatz suchen“, sagte Mark zu dem indischen Kellner neben dem Wait-to-be-seated-Schild am Eingang. Wählte einen Ecktisch, von dem er einen guten Blick auf die Straßen und den Wheelock Place hatte, setzte sich, überprüfte mit einer leichten Berührung seiner Hand den Sitz des Revolvers in seinem Gürtel, wischte sich ein weiteres Mal mit seinem Tuch über die Stirn, krempelte sorgfältig die Ärmel nach oben, vier Mal, bis knapp über die Ellbogen. Die verschwitzte Haut hob sich deutlich ab vom Weiß seines Hemdes.

Der Kellner kam, das dunkle Gesicht ohne jede Regung, legte eine Speisekarte auf den Tisch, wohl mit Absicht direkt neben den No-Smoking-Aufkleber und empfahl ihm unaufgefordert die gefüllten Nudeltaschen.

Mark schüttelte den Kopf. Billiges Fertigessen, tiefgefroren, in der Mikrowelle aufgewärmt? Er verlangte einen Jasmintee.

Der Kellner ging.

Minuten später stellte ihm eine junge Chinesin wortlos eine große Tasse mit heißem Wasser und einem Teebeutel hin, daneben legte sie eine Handvoll Servietten. Mark warf ihr einen Blick zu. Er schätzte die junge Frau auf nicht älter als siebzehn, und sie schien ziemlich müde zu sein, denn ohne ihn anzusehen setzte sie sich wieder auf ihren Platz neben der Theke und schloss die Augen. Eine Studentin vielleicht, deren Familie nicht zu den Besserverdienenden gehörte; eine der vielen, die abends für ihren Lebensunterhalt arbeiten mussten, tagsüber studierten und dabei auf einen Sechzehnstundentag kamen. Vielleicht eine Studentin seiner Universität, vielleicht sogar eine seiner Studentinnen, die ihn vor lauter Müdigkeit nicht erkannt hatte.

Er musterte sie.

Vielleicht.

Der Anruf aus seiner Vergangenheit hatte ihn am Mittag erreicht, kaum, dass er nach der Vorlesung sein Büro betreten hatte. Seine Sekretärin hatte den Kopf zur Tür hereingesteckt und gesagt, ein Mann wäre am Telefon und wünschte mit ihm zu sprechen.

„Ein Mann?“

Sie hatte mit ihren schmächtigen Schultern gezuckt.

„Wie heißt der Mann?“

„Er wollte mir seinen Namen nicht nennen.“

„Chinese?“

„Ja.“

„Hm.“

„Er ruft aus Hong Kong an, sagt er.“

„Aus Hong Kong?“

„Hong Kong.“

„Und er wollte seinen Namen nicht nennen?“

„Er wollte mir seinen Namen nicht nennen.“

Schnell hatte sich herausgestellt, wer der anonyme Anrufer war und ebenso schnell war klar, warum er seinen Namen nicht genannt hatte. Die Entscheidung, ob Mark ihm helfen wollte, hatte ihm der Anrufer abgenommen. Du schuldest mir das. Sie hatten gesprochen, dann hatte Mark seine Sekretärin angewiesen, alle Termine für die kommenden Tage abzusagen. Ihren fragenden Blick hatte er unbeantwortet gelassen.

Er hatte von seinem Konto eine größere Summe Bargeld abgehoben, war damit nach Chinatown gefahren und hatte

das Geld deponiert. Dann war er nach Hause.

Beim Abendessen hatte er Linda von einem Anrufer berichtet, für den er in den nächsten Tagen einige Dinge

 

 

 

tun musste. Die wenigen Einzelheiten, die er selbst kannte, auch den Namen des Anrufers, sparte er aus. Es gab keinen Grund, sie zu beunruhigen. Linda war seit fast fünfunddreißig Jahren seine Frau. Sie wusste von vielen Dingen, die er getan hatte, von noch mehr Dingen aber wusste sie nichts. Und Linda hatte gelernt, nicht zu fragen, sondern mit der Angst um sein Leben zurecht zu kommen. Weil er es so von ihr verlangte.

„Wann sehen wir uns wieder?“

Er hatte den Revolver eingesteckt und nicht geantwortet. Er wusste es selbst nicht.

 

Mark drehte das Handgelenk. Seine Uhr zeigte zehn. Der Anrufer war spät. Er fischte den Teebeutel aus dem Glas, legte ihn, da er nicht wusste, wohin sonst, auf die Servietten, nippte an seinem Getränk, war überrascht und nippte erneut.

Musterte wieder die Menschen um ihn herum und draußen.

Er sah den Anrufer auf das Café zukommen.

 

 2

 

Zwei Tische von Mark entfernt saß Carolin Yu vor einem Glas Latte Macchiato mit viel Schaum. In der Hand hielt sie ein Modemagazin, in das sie scheinbar vertieft war. Sie war zwei Stunden zuvor nach einem mehr als zwanzigstündigen Flug aus New York kommend in Singapur gelandet und auf direktem Weg vom Flughafen zu diesem Café gefahren. Ihre Zielperson wollte sich hier mit einem Mann namens Mark Li treffen. Li, so stand in dem Dossier ihrer Abteilung, war chinesischer Staatsbürger und ehemaliger Spion des chinesischen Ministeriums für Staatssicherheit. Und er war der ehemalige Chef ihrer Zielperson.

Carolin streckte ihren müden Rücken, nahm wieder ihr Telefon aus der Handtasche und guckte auf das Display und steckte es wieder ein.

Sie hatten sie für diese heikle Mission ausgesucht, weil sie drei besondere Eigenschaften besaß: Erstens fiel sie aufgrund ihrer Herkunft in Singapur nicht auf, zweitens sprach sie, wie ihre Zielperson, Mandarin und Kantonesisch. Und drittens – und als ihr Boss das sagte, war sie schon ein bisschen stolz – „bist du eine der verdammt besten Mitarbeiterinnen, die die amerikanische Heimatschutzbehörde je hatte“.

Ihr wurde gerade der zweite Latte serviert, da war Mark Li ins Café gekommen, hatte sich an den Ecktisch gesetzt, das Gesicht mit einem Tuch abgewischt, bestellt, die Ärmel seines Hemdes hochgekrempelt, an seinem Tee genippt. Schlank, drahtig, die gebräunte Haut nahezu faltenlos, schwarzes, volles Haar, nur wenig Grau. Li sah jünger aus als die sechzig Jahre, die er ihren Informationen nach war.

Obwohl seit fast neun Jahren Soziologieprofessor an einer der Universitäten der Stadt und ebenso lange nicht mehr aktiv, musste sie davon ausgehen, dass Mark immer noch Profi genug war, ihr den Job schwer zu machen. Für sie bedeutete das, vorsichtig zu sein und so zu tun, als ob sie sich für nichts auf dieser Welt interessierte außer für ihr Modemagazin und ihr Getränk.

Ihr fiel das nicht schwer. Sie hatte eine Schwäche für Latte Macchiato, die einzige Ausnahme in ihrer ansonsten kalorienarmen Diät, sie liebte Modemagazine, und sie war entspannt, wofür es einen guten Grund gab.

Denn wenn alles gut gegangen war, und daran zweifelte sie nicht, dann war ihre Zielperson bereits vor einer knappen Stunde festgenommen worden und saß jetzt in einem Flugzeug mit Kurs in ein Land, das keine Fragen stellte, wenn Agenten der Heimatschutzbehörde mit einem Gefangenen einreisten.

Li würde dann vergebens warten und nie erfahren, was ihre Zielperson erfahren hat.

Und sie, ja, sie könnte sich einen freien Tag in einer der schönsten Städte der Welt gönnen und vielleicht sogar das eine oder andere Kleidungsstück aus diesem Magazin anprobieren, das sie aus dem Flugzeug mitgebracht hatte. Sie wartete nur auf die Meldung ihrer Leute.

Und zum vierten Mal innerhalb der vergangenen Stunde guckte sie auf ihr Telefon. Und zum vierten Mal hatte sie keine Nachricht.

Was war los, verdammt?

Und dann unterlief ihr ein dummer, dummer Fehler.

Denn noch während sie ihr Telefon wieder einsteckte sah sie ihre Zielperson in das Café kommen.

Und Carolin Yu, eine der verdammt besten Mitarbeiterinnen von Homeland Security, konnte für einen kurzen Moment ihr Erstaunen nicht unterdrücken.

 

Mark hatte die Chinesin wahrgenommen, selbstver-ständlich. Dreißig Jahre alt, sehr schlank, elegant gekleidet mit einem Kostüm aus dunkelblauer Seide und passenden dunkelblauen Stiefeletten mit hohen Absätzen. Eine sehr attraktive Frau. Er hatte beobachtet, wie sie einen Kaffee bekam mit einer fast überquellenden Schaumkrone und ihr Mobiltelefon auf Nachrichten überprüfte und schließlich in einem Modeheft zu blättern begann und dabei gelegentlich ihren Rücken streckte, als wäre sie müde. Ihm war aufgefallen, dass sie zwar eine Handtasche und eine kleine Reisetasche, aber keine Einkaufstüte bei sich trug. Was ungewöhnlich war auf der Orchard Road, aber nicht so ungewöhnlich, dass er misstrauisch geworden wäre. Er hatte sie dann nicht weiter beachtet.

Bis zu dem Moment, als der Anrufer vom Morgen in das Café kam und er im Gesicht der Chinesin für einen Augenblick den vollendeten Ausdruck des Erstaunens sah.

 

Ende der Leseprobe

 

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