Palmer :Shanghai Expats

Leseprobe Fortsetzung

 

 

Der Hagere nicht. Der schaute wieder nach unten, nahm erneut Palmers Ticket nach Manila, Weiterflug in drei Tagen, legte das Ticket hin und nahm wieder den Pass und blätterte weiter.

Das Ticket musste sein, sonst hätte Palmer hier nicht landen dürfen. Und Manila war für diesen Zweck ein so guter Ort wie jeder andere.

Auch trug er eine billige Reisetasche bei sich mit allerlei nutzlosem Zeug. Die Tasche musste ebenfalls sein; ohne Tasche reisen war heutzutage auffällig.

Auf dem Schalter links vor dem Sicherheitsglas ein Monitor. Der Bildschirm ohne Informationen, blank. Rechts eine kleine Box, mit der Aufforderung, die Arbeit von 033495 zu bewerten. Vier Smileys, von strahlend und sehr zufriedenstellend bis missmutig und überhaupt nicht zufriedenstellend. Der Reisende hatte die Wahl. Sobald das Licht an der Box leuchtete, konnte er seine Bewertung abgeben. Doch zuvor mussten Informationen über ihn auf dem Monitor erscheinen.

Palmer wusste das, von vielen Reisen. Auch in dieses Land. Mit anderen Pässen und unter anderen Namen. Er war vielseitig.

Noch leuchtete das Licht an der Box nicht. Folglich war der Hagere mit seiner Arbeit noch nicht zu Ende und er noch nicht berechtigt, das Land zu betreten.

Nun, Palmer, ich warte auf dich.

Palmer drehte den Kopf und seine Nackenwirbel knackten. Neun Schläge in zehn Sekunden bedeuteten, dass er so ruhig war, als würde er mit einem Becher Kaffee in der Hand vor seinem Trailer in der Wüste New Mexicos sitzen. Und der Klapperschlange neben ihm über den Kopf streicheln.

Okay, so etwas tat er nicht. Seine Gedanken wanderten schon wieder.

Dann die letzte Seite. Auch dort kein Stempel.

Wieder schaute der Hagere zu ihm hoch, wieder huschte der Blick über die Schramme, wieder schwankte der Kopf.

Dann legte der Hagere den Pass in das Lesegerät.

Palmer schaute auf den Monitor.

Der Monitor zeigte sein Foto, dazu ein Name, ein Geburtsdatum, eine Passnummer. Ein eingeblendeter Text forderte ihn auf, diese Angaben zu überprüfen.

Guter Witz.

Nicht sein Name, nicht sein Geburtsdatum, nicht seine Nationalität und eine Passnummer, die nirgends existierte. Außer in diesem Pass, natürlich.

Aber das wusste der Hagere nicht. Und das Gerät vor ihm hoffentlich auch nicht.

Palmer schaute in die Kamera, so, wie der Hagere ihn mit einer knappen Handbewegung aufforderte, jetzt ohne hoch zu gucken. Palmers Gesicht erschien auf dem Monitor und fror ein, neben dem Gesicht aus seinem Pass. Dasselbe Gesicht. Absolut identisch. Inklusive der Schramme. Die Schramme – Resultat einer Ungeschicklichkeit beim Reparieren seines Stromgenerators – war fünf Tage alt, genau wie Passbild und Pass. Er hatte den Pass in Los Angeles machen lassen, kurz vor seiner Abreise, und dafür siebzehnhundert Dollar bezahlt. Zweihundert Dollar Aufschlag seit dem vergangenen Mal, aber überall stiegen die Preise, und er hatte anstandslos bezahlt, weil er für sein Geld wieder eine hervorragende Ware bekommen hatte. Was nicht immer der Fall war. Bei seinem Generator beispielsweise nicht.

Aber laut Datum war der Pass ein Jahr alt. Die Schramme in seinem Gesicht aber nur fünf Tage.

Das konnte ein Problem sein.

Der Hagere starrte auf seinen Bildschirm und verglich die beiden Fotos, Palmer konnte es an den Bewegungen der Augen erkennen: hoch, runter, hoch, runter. Dann wieder

 

 

 

 

ein Blick in sein Gesicht und wieder zurück auf den Bildschirm. Sein Gesicht, sein Foto. Keine Frage.

Und dieselbe fünf Tage alte Schramme im Gesicht und auf dem Foto.

Im Augenwinkel sah Palmer, wie einer der Uniformierten in der Kabine ihn fixierte. Dann gähnte und die Augen schloss.

Noch einmal nahm der Hagere das Ticket, verglich Angaben, legte das Ticket hin. Starrte wieder auf den Bildschirm, Augen jetzt nach rechts und links, offensichtlich sehr konzentriert. Was Palmer gar nicht gefiel.

Aber der Hagere schwitzte. Und das war gut.

„Die Klimaanlage“, sagte Palmer und wartete, bis der Hagere zu ihm hoch schaute, „die Klimaanlage müsste besser kühlen, denn das hier ...“ – Palmer zeigte an die Decke und schüttelte den Kopf – „reicht doch nicht aus. Niemand kann den ganzen Tag in einer solchen Hitze arbeiten.“

„Stimmt, das stimmt, ja“, sagte der Hagere und nickte und lächelte, die Zähne braun verfärbt wie seine Fingerkuppen, ein Dutzend Falten jetzt um Mund und Augen und auf der Stirn. „Und das wird noch Wochen so weitergehen. Zweimal pro Schicht wechsle ich mein Hemd, und trotzdem?“ Pass in der Hand, hob er den Arm und nickte auf den dunklen Fleck und sagte, „Meine Frau weiß schon nicht mehr, wie sie bis zur nächsten Schicht meine Hemden sauber bekommt.“

„Hoffentlich haben Sie wenigstens ab und zu eine Pause“, sagte Palmer. „Für eine Zigarette, meine ich.“

„Selten genug“, sagte der Hagere und, Finger auf dem Namen unter dem Foto, „Woher sprechen Sie so gut Mandarin, Mister ... Dan? ... Green?“

„Singapur“, sagte Palmer, „als Kind habe ich in Singapur gelebt.“

„Singapur, mmh, dann sind Sie ja Hitze gewöhnt“, sagte der Hagere. „Aber in der letzten Zeit sind Sie nicht viel gereist.“

Palmer zuckte mit den Schultern.

Und der Hagere schien auch keine Antwort zu erwarten, denn er drückte bereits den kleinen, roten Stempel in den Pass, nahm das Ticket und hielt ihm beides hin. „Willkommen in Shanghai, Mister Dan. Ich wünsche Ihnen einen schönen Aufenthalt. Nur zweiundsiebzig Stunden, nicht länger, bitte denken Sie daran, sonst könnten Sie Probleme bei der Ausreise bekommen. Und nur Shanghai und Jiangsu und Zhejiang, Sie dürfen die Region nicht verlassen.“ Palmer nahm Ticket und Pass, ohne die Verwechslung des Vornamens mit dem Nachnamen zu korrigieren, schließlich waren beide falsch. Die Informationen auf dem Monitor verschwanden, der Bildschirm war wieder blank, an der Box leuchtete das Licht. „Und halten Sie sich nicht lange auf der Straße auf“, sagte der Hagere, „viel zu heiß da draußen, viel heißer als Singapur. Bleiben Sie im Hotel oder in den Shoppingmalls, da funktionieren sie.“

Palmer überlegte und sagte, „Die Klimaanlagen, ja. Guter Rat, guter Rat.“ Drückte das strahlende Smiley und ging am Sicherheitsglas vorbei, auf direktem Weg zum Ausgang. Nicht schnell und nicht langsam.

Der eine Uniformierte ignorierte ihn. Der andere auch, sozusagen. Er hatte immer noch die Augen geschlossen.

Zweiundsiebzig Stunden. Drei Tage. Dann musste Palmer China wieder verlassen.

Aber das war okay. Dann würde er sehr gerne Shanghai verlassen.

Denn in drei Tagen wird jeder Polizist in der Stadt, jeder Triade und jeder Geheimdienstler nach ihm suchen.

Sie werden es Mord nennen.

Palmer? Gerechte Strafe.

 

Ende der Leseprobe

 

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