Leseprobe
Ich wurde verhaftet am Tag meiner Entlassung. Entlassung aus dem Krankenhaus, versteht sich, nicht dem Gefängnis. Von meinen eigenen Leuten. Drei an der Zahl. Angeführt von meinem Chef. Heidmann. Oder, wie ich ihn nannte, Bosse.
„Sie sind vorläufig festgenommen, Schick. Wegen Mordes.“
Ein ernster Vorwurf.
Besonders, da die Beweislage gut schien. Also, gut für Bosse. Schlecht für mich.
„Wir haben Ihre Fingerabdrücke in dem Fahrzeug, mit dem Sie zum Tatort gefahren sind. Wir haben DNA-Spuren von Ihnen am Opfer.“ Und als ob das noch nicht reichte, „Wir haben Fotos, die Sie bei der Tat zeigen. Fotos.“
Anstatt zur Reha, fuhr ich also ins Polizeipräsidium.
Dass Bosse nicht darauf verzichtete, mir vor Evas Augen Handfesseln anzulegen, würde er noch bereuen. Er wusste es nur noch nicht. Auch ein Kriminaldirektor ist manchmal nichts weiter als ein Tor.
Aber von vorne.
Elf Tage zuvor saß ich mal wieder bei Pit vor einem Whisky butterig und holzig und, mal wieder, grübelte und grübelte ich über den Sinn meines Lebens und über diese verdammten zwei Minuten ...
1
Zwei Minuten.
Kaum zu glauben.
Zwei kleine, beschissene, endlose Minuten.
In den vergangenen fünf Monaten habe ich an fast jedem Tag über diese zwei Minuten nachgedacht. Meist mehrfach. Morgens, mittags, abends und zwischendurch auch. Abgesehen von meinen vier Tagen im Koma also eigentlich immer. Auch heute, jetzt, hier bei Pit, der hinter seiner braunen Massivholztheke stand und Gläser wischte und ab und zu ein Auge auf mich und den Drink in meiner Hand warf.
Whisky. Doppelt. Ohne Eis und ohne Wasser.
Ich bin kein Whisky-Trinker, gar nicht. Auch nicht Wodka oder Dry Martini, auf die ich manchmal ausweiche aus Gründen der Abwechslung. Aber Wein oder Bier, das dauert einfach zu lange, mir die Erinnerung zu vernebeln. Und wer hat schon Zeit zu verschenken. Ich ganz sicher nicht.
Aber nur nachgedacht habe ich über erwähnte zwei Minuten, nicht darüber gesprochen. Ich bin nicht der gesprächige Typ.
Zwei Minuten. Gerade mal so lange, wie ich jeden Morgen zum Rasieren brauche. Nass, nicht trocken.
Das Sprechen haben dann andere übernommen. Meine Frau, zum Beispiel. Eine verletzte Seele, so hörte sich das dann an, eine verletzte Seele kann nur heilen, wenn sie zur Ruhe kommt. Und zur Ruhe kommen kann die Seele nur, wenn der Körper an den Ort seiner Jugend zurückkehrt.
Ziemlich abgefahren, oder?
Ich kann mit so einem spirituell angehauchten Gedöns ja rein gar nichts anfangen. Wenn ich zum Beispiel den Ort meiner Jugend, also Trier – das ist eine Stadt irgendwo im Südwesten, kein Problem, kennt sonst auch kaum jemand – wenn ich also Trier beschreiben sollte, dann würde sich das so anhören: Wäre das Leben eine Zugfahrt, Trier wäre die Endstation. Oder: Wäre die Welt ein Arsch, Trier wäre das Loch. Oder: Wenn Glück die Summe der zufriedenen Momente ist, dann ist Unglück die Zeit, die du in Trier verbringst.
Ich denke, der Unterschied zwischen meiner Frau und mir wird klar.
Aber als liebenswürdiger und toleranter Kerl, der ich einmal war, ließ ich meiner Frau ihren Glauben und hielt, wann immer sie das sagte, meine Klappe. Was mir allerdings letzten Endes nichts nutzte, denn mit diesem Spruch meinte sie nicht nur die verletzten Seelen im Allgemeinen, sondern ganz konkret die Seele ihres Gatten, also meine, und an den Ort der Jugend zurückkehren meinte sie nicht im übertragenen Sinne, sondern ganz wörtlich.
Mit anderen Worten, sie meinte: Ich kann dich nicht mehr ertragen, pack deine Sachen und verschwinde.
Da ich diskutieren in dem Fall für aussichtslos hielt und ohnehin dazu keine Lust mehr hatte und obendrein das Haus, in dem wir wohnten, meiner Frau alleine gehörte, was sie mir bei jeder Gelegenheit unter die Nase rieb, tat ich genau das: Ich packte meine Sachen und verschwand.
Der Kummer hielt sich auf beiden Seiten in Grenzen.
Dass ich aber tatsächlich an den Ort meiner Jugend zurückgekehrt bin – auch bekannt als Endstation, auch bekannt als Loch, auch bekannt als Unglück, auch bekannt als Trier – wo ich jetzt in einem der schlechteren Stadtteile an Pits Theke saß und meinen dritten Whisky des Abends schwenkte, war allerdings nicht das Verdienst meiner zukünftigen Exfrau und ihres spirituell angehauchten Gedöns', sondern hatte ganz und gar weltliche Gründe.
Ich wurde hierher versetzt. Gegen meinen Willen, möchte ich hinzufügen. Als direkte Folge eingangs erwähnten zweibeschissenminütigen Ereignisses.
Ich muss das erklären.
Vor rund fünf Monaten, als ich noch voller Elan für das rheinland-pfälzische Landeskriminalamt in meinem – ja, ich scheue mich nicht, es so zu formulieren – in meinem Traumjob tätig war, wurde ich in einer Tiefgarage von zwei Kerlen überfallen und niedergestochen. Sollte einem wie mir mit fast dreißig Jahren Erfahrung bei der Kripo nicht passieren, ich weiß, aber zu meiner Rechtfertigung füge ich an, es war zum einen stockfinster und der Angriff kam feige von hinten, und zum anderen war ich zwar ein guter Polizist, aber nicht der Terminator. Also, keine blöden Kommentare, bitte.
Wie auch immer, der Überfall schien nicht mir persönlich gegolten zu haben, denn keiner der beiden hat etwas gerufen wie Das ist die Rache dafür, dass wir deinetwegen im Knast gesessen haben oder Das kommt davon, wenn du dich mit uns anlegst oder auch nur Scheiß Bulle. Nichts dergleichen. Ich war wohl nur zur falschen Zeit an diesem Ort.
Seither meide ich im Übrigen Tiefgaragen. Sollte jeder tun.
Der Überfall auf mich, der mir unter anderem drei Stichverletzungen in den Rücken inklusive Nahtoderfahrung sowie eine, wie gerade erwähnt, angeblich verletzte Seele bescherte, veränderte mich, ich räume es ein. Bereits während meines vierwöchigen Krankenhausaufenthalts entwickelte ich eine angepisste Grundhaltung und in der Folge zunehmend schwerer zu kontrollierende Gefühlsausbrüche der negativen Art, die mir erstmals während der dem Krankenhaus folgenden Reha zu schaffen machten. Also, nicht eigentlich mir zu schaffen machten, sondern einem meiner Leidensgenossen – wir sollten uns tatsächlich gegenseitig so nennen, Leidensgenossen, da wir alle auf ähnliche Weise körperlichen und seelischen Schaden genommen hatten und es angeblich gut tat, ein Leiden auch als solches zu benennen. Ich war anderer Ansicht, aber mich fragte niemand.
Jedenfalls, der Leidensgenosse war ein Gerichtsvollzieher mit blonden Haaren und fettig glänzendem Kinnbart, an dem er dauernd herummachte, der trotz seiner Länge von nahe zwei Metern und seines noch relativ jungen Alters von sechsunddreißig Lenzen von einem Rentner verprügelt worden war, der die Raten für die Beerdigung seiner Frau nicht bezahlen konnte. Der Gerichtsvollzieher erzählte während einer Stuhlkreissitzung mit einem orangefarbenen Schaumstoffball in der Hand, wie der Rentner ihm erst mehrere Faustschläge versetzt und ihn dann die Treppe hinuntergestoßen hatte, nur weil er seine Pfandsiegel auf den alten Fernseher und die Schallplattensammlung seiner Frau mit Titeln von Elvis und Freddy Quinn kleben wollte, die einzigen Habseligkeiten von Wert in der vermieften Bude. So hat er gesagt: Habseligkeiten und vermiefte Bude. Und dass er seitdem nicht mehr arbeiten konnte.
Dann warf er den Ball mir zu.
Ich weiß, als Polizist darf ich so etwas nicht einmal denken, aber ich habe es dennoch getan und sogar ausgesprochen, dass meiner Meinung nach jeder Rentner jeden Gerichtsvollzieher jede Treppe hinunterstoßen darf, der bei ihm pfänden will, nur weil er die Beerdigung seiner Frau nicht bezahlen kann. Und dass ohnehin kein Gerichtsvollzieher das Recht hätte, einen Fernseher zu pfänden, erst recht nicht schnodderige Gerichtsvollzieher wie er, die so selbstgefällig sind, den Besitz verarmter, älterer Menschen als Habseligkeiten und ihre Wohnungen als vermiefte Bude zu bezeichnen. Und sich dabei Essensreste aus ihrem blöden Kinnbart zupften.
Dann warf ich ihm den Ball zurück. Fest und ins Gesicht, ich hatte immer schon einen guten Wurfarm. Aber wie gesagt, Schaumstoff, hat also keinen weiteren Schaden angerichtet.
Aus meiner Antwort inklusive Schaumstoffballwurf entspann sich ein kurzes Wortgefecht, das ich, nachdem er sowohl den Rentner als auch mich einen alten Penner nannte, mit einer Ohrfeige beendete.
Fand ich ganz normal.
Alle anderen fanden das nicht normal, aber auch das fand ich normal.
Dies nur als kurzes Beispiel für meine damalige Gefühlslage. Heute ist es nicht mehr ganz so.
Es ist schlimmer.
Nach der Reha zurück im Job gings also in dieser Richtung weiter, und zwei Abmahnungen später kam dann der Apparat in die Gänge.
Sie haben den Angriff auf Ihr Leben noch nicht verkraftet, Herr Schick, Sie müssen es ruhig angehen lassen, hat erst der Polizeipsychologe zu mir gesagt, dann meine Chefin, dann der Chef meiner Chefin, dann der Innenminister, der mir ein paar Monate zuvor noch irgendeine Plakette wegen besonderer Verdienste an die Brust getackert hatte mit den Worten, Das Land Rheinland-Pfalz ist stolz, einen Topermittler wie Sie in den Reihen des LKA zu haben. Foto und Zitat sind in der örtlichen Tageszeitung erschienen, Seite fünf Landespolitik, ich kann es also beweisen. Dass es intern ein Running Gag wurde, bei schwierigen Fragen erst mal nach dem Topermittler zu rufen, hat in dieser Veröffentlichung seinen Ursprung. Kollegen wissen es eben zu schätzen, wenn der Innenminister einen aus dem Team über alle anderen stellt. Ganz besonders, wenn das öffentlich geschieht. Dies nur am Rande, falls ein Innenminister gerade mitliest. Gilt natürlich auch für alle anderen Minister.
Dann war wieder meine Chefin dran, Frau Kleines Würstchen, die im Übrigen bei dieser Topermittler-Sache ebenfalls mitmachte und mir in einem vertraulichen Gespräch – Tür zu, Jalousien runter, meine Personalakte auf dem Tisch und Kaffee bot sie mir auch nicht mehr an – die beiden Möglichkeiten für mein zukünftiges Leben erörterte: Frühpensionierung oder Versetzung, Schick, eine dritte Möglichkeit gibt es nicht, gucken Sie also nicht so, ich rate Ihnen dringend, das jetzt ruhig und friedlich zu akzeptieren, denn sonst könnte es noch ganz anders für Sie kommen, haben wir uns da verstanden?
Ob sie sich mit meiner Frau abgesprochen hat, kann ich bis heute nicht beweisen, jedenfalls behauptete sie dann, die einzige freie Stelle für einen Topermittler wie mich gäbe es derzeit in Trier, und zugleich wäre die putzige Stadt aufgrund der verschwindend kleinen Zahl an Kapitalverbrechen und der total idyllischen Lage an der Mosel zwischen dem superromantischen Hunsrück und der überwältigend malerischen Eifel ohnehin für mich der wirklich alleroptimalste Ort, zur Ruhe zu kommen und jenen bereits mehrfach erwähnten Angriff auf mich zu verarbeiten und vielleicht irgendwann wieder ein brauchbarer Mensch und Polizist zu werden.
Muss ich erwähnen, dass ich einen Eimer hätte vollkotzen können?
Dann hatte sie sich in ihren nagelneuen Zweitausend-Euro-Bürostuhl zurückgelehnt und mich noch wissen lassen: Sie schaffen das, Schick, ich glaube da fest an Sie, sehen Sie, Sie waren ja jetzt schon ganz ruhig, kein Wutausbruch, Sie haben nur ein bisschen geschluckt, ich bin wirklich optimistisch, geben Sie mir bis morgen früh Bescheid, schönen Feierabend noch.
Und bis dahin habe ich immer gedacht, meine Chefin würde nicht nur Loyalität und vollen Einsatz von ihren Mitarbeitern einfordern, sondern im Gegenzug dieselben Mitarbeiter mit aller Kraft schützen und unterstützen. Aber auf der anderen Seite war ich auch lange so naiv gewesen zu glauben, dieses In guten wie in schlechten Zeiten hätte tatsächlich eine Bedeutung. Mein Fehler also.
Das mit den Zweitausend Euro für ihren Stuhl weiß ich übrigens genau. Jemand aus der Beschaffung hatte, ganz aus Versehen, eine entsprechende Rundmail an alle Mitarbeiter verschickt. Ich will hier keine Namen nennen, aber Hans, genannt Hansi, war seitdem mein Lieblingskollege.
Den folgenden Feierabend verbrachte ich tatsächlich mit Nachdenken, wozu ich meine damalige Stammkneipe aufsuchte, die ganz anders als die von Pit aussah, nämlich gepflegt und sauber, und außerdem den Vorteil hatte, dass nicht Pit hinter der Theke stand sondern Jenny, die mir gelegentlich einen Whisky spendierte und nichts dagegen hatte, dass ich, ebenso gelegentlich, in ihren stets tiefen Ausschnitt guckte. Aber das ist Vergangenheit, lassen wir das also.
Frühpensionierung mit Anfang fünfzig hatte für mich durchaus seinen Reiz – Couch, Pizza vom Lieferservice, nicht mehr rasieren (zwei beschissene Minuten gespart) und gleich nach dem Aufstehen am Nachmittag den ersten Schluck Single Malt zusammen mit einer der Kochshows oder Krankenhausserien oder was sonst heute angeboten wurde zur zügigen Verblödung der Menschheit – aber dann fiel mir ein, dass ich seit meinem Auszug keinen Fernseher mehr besaß, nicht einmal einen alten, wie der verarmte, wackere Rentner, also kam das nicht in Frage.
Blieb daher nur die Endstation, die ich in einem anderen Leben am Tag nach meinem Schulabschluss verlassen hatte in der festen Absicht, ein aufregendes Dasein als Sheriff in Arizona zu führen und niemals zurückzukehren. Sheriff hat zwar nicht geklappt, aber immerhin bin ich doch Polizist geworden, und zwischendurch war ich zwar auch immer mal wieder in Trier, aber nur wegen familiärer Termine auf dem Hauptfriedhof. Ansonsten habe ich der Stadt die kalte Schulter gezeigt. So wie sie mir mein ganzes Leben lang, bin ich versucht hinzuzufügen, aber das wäre vielleicht zu spirituell.
Da alle meine Gegenvorschläge bezüglich meiner beruflichen Zukunft – Beförderung zum BKA, Ausleihe an ein anderes LKA, Abordnung zu Europol, Sheriff in Arizona oder jedem anderen US-Bundesstaat außer Alaska – abgelehnt wurden, blieb mir also nichts anderes, als mich zu fügen. Vor sechs Wochen dann drückte mir Frau Kleines Würstchen meinen Marschbefehl in die Hände. Als sie aber dazu noch die Unverfrorenheit besaß, mir alles Gute für meine Zukunft zu wünschen und diesen Wunsch verband mit der angeblich ehrlich gemeinten Hoffnung, alsbald den Angriff auf mein Leben zu verarbeiten und schnellstens meine Gefühlsausbrüche unter Kontrolle zu bekommen, habe ich meine Dienstwaffe gezogen und ihr in den Kopf geschossen.
Bamm.
Selbst schuld. Meine Loyalität kennt eben auch ihre Grenzen.
Okay, meine Chefin hieß nicht Kleines Würstchen, aber ich hielt sie nun mal dafür, mangelnde Unterstützung und so. Und geschossen habe ich auch nicht, weder in ihren Kopf noch sonst wohin, aber, verdammt, ich wollte es. Ehrlich.
Tja, das ist die Geschichte, weshalb ich in diese Stadt versetzt wurde, die jeder richtige Polizist tatsächlich als eine Art Endstation ansehen würde.
Ich schob das Glas über die Theke.
„Pit, hey, mach nochmal voll.“
Achtzehn Jahre alter Glendronach, hatte Pit beim ersten Glas gesäuselt, ein klassischer Single Malt, einer der besseren Whiskys. Beim zweiten Glas hatte er etwas von butterig mit einem Hauch von Kaffee erzählt und beim dritten auf den leicht holzigen und zugleich würzigen Abgang hingewiesen.
Butterig, holzig, würzig, ich sags gleich, alles Blödsinn. Oder, wie man in Pits Stadt sagen würde, Kappes. Nach jedem Schluck hab ich geschmatzt, dass der fette Kerl am anderen Ende des Tresens schon zweimal seinen Glatzkopf zu mir drehte und es mich bereits beim ersten Mal juckte, ihn von seinem blöden Hocker zu treten. Aber etwas Fruchtiges habe ich bislang nicht geschmeckt. Auch nichts Holziges, Würziges und schon gar nicht Kaffee. Nichts. Nada. Oder, wie man hier sagen würde, neischt.
„Pit, hast du was auf den Ohren? Mach nochmal voll. Und, sag mal, wie viel Uhr ist es?“
Jetzt hörte Pit hinter seiner Theke zu wischen auf und sah mich stumm an. Jemand, der ihn nicht kannte, würde vielleicht eine Portion Gereiztheit in Pits vernarbtem Gesicht erkennen, aber damit läge er falsch. Mund auf und geistlos gucken, das war einfach die Art, wie Pit direkt an ihn gerichtete Fragen beantwortete. Wie er es damit schaffte, seinen Lebensunterhalt zu verdienen in einem Gewerbe, das ein umgängliches Wesen und kommunikative Fähigkeiten erforderte wie kein anderes, war mir ein Rätsel. Auf der anderen Seite, die für seinen Job entscheidende Frage kannte er auswendig. Vielleicht brauchte es nicht mehr.
„Pit, guck nicht so stumpf, sondern lass mich den Stand deiner Zwiebel wissen, und dann schütt mir noch einen aus. Ich warte.“
„Ich bin nicht deine Sekretärin. Warum kaufste dir nicht endlich selbst ne beschissene Uhr?“
Das war natürlich nicht die entscheidende Frage, von der ich gerade sprach, und er meinte das auch nicht so, denn wie gesagt, Pit war nicht gereizt und schon gar nicht angriffslustig. Obwohl, wenn ich darüber nachdachte, es könnte doch sein, dass er in diesem Augenblick gereizt war, ein ganz klein wenig, was dann möglicherweise mit einem Gast zu tun haben könnte und seiner zu Bruch gegangenen Nase, die gegen meinen Ellbogen gestoßen war. Irgendwann vergangene Woche. Ich wills nicht ausschließen, aber ich war mir auch alles andere als sicher.
„Damit ich dich mit meiner Frage nach der Uhrzeit nerven kann, natürlich. Außerdem stört mich so ein Ding am Handgelenk, wenn ich jemandem auf die Glocke hauen muss. Und einen Whisky habe ich beantragt, kommt der noch oder wie?“
„Du bisn Bulle, du darfst niemandem auf die Glocke hauen. Nicht hier. Nicht nirgendwo. Außerdem haste schon drei. Und alle drei waren doppelte, also eigentlich sechs. Willste noch fahren?“
Ich trank mein Glas leer und schmatzte wieder, aber keine Reaktion von Glatze. Was ich bedauerte. „Ich darf also niemandem auf die Glocke hauen. Und wo genau steht das geschrieben, huh?“
Ich sah Pit an, dass ich ihn damit hatte. Was mich nicht wirklich überraschte, denn Pit war zwar irgendwie begabt, wenns ums Geldverdienen ging, aber ansonsten war er nicht sonderlich helle. Zum Beispiel letzte Woche, unmittelbar vor der Sache mit der Nase. Ich habe ihm von einer bundesweiten Razzia im Salafistenmilieu erzählt, also nicht hier, niemand, der in der Endstation für Recht und Ordnung zuständig war, hatte damit zu tun; ich hab nur das erzählt, was in den Zeitungen stand und ein langer Bericht im Spiegel. Als Pit nicht geantwortet hat, hab ich ihn gefragt, wann er denn zuletzt in den Spiegel geguckt hat. Die Zeitschrift hab ich natürlich gemeint, aber er hat sich umgedreht zu seinen Flaschen und dem Spiegel dahinter und gefragt, ob er was im Gesicht hätte. Also, nur so als Beispiel, von wegen helle und so.
Der eben erwähnte Gast mit Nase, nur um die Geschichte zu Ende zu bringen, der Gast mit Nase hat mich dann angeraunzt, warum ich Pit verarschen würde, ich sollte damit aufhören. Dann hat er sich vor mir aufgebaut und wollte mir erklären, was passieren würde, wenn ich nicht damit aufhörte, aber dazu kam es nicht mehr, weil er in diesem Augenblick seine Nase mit voller Wucht gegen meinen Ellbogen stieß. Keine Ahnung, warum er das gemacht hat, er hätte doch wissen müssen, dass bei einem solchen Zusammentreffen stets die Nase zu Bruch ging, nicht der Ellbogen.
„Was weiß ich denn, wo das geschrieben steht, musst du besser wissen als ich, du kennst dich doch mit Gesetzen aus.“
„Steht nirgendwo, Pit.“
„Kappes.“
„Warum lässt du dir das von dem Blödmann da gefallen, Pit?“
Die Frage von Glatze löste bei mir freudige Erinnerungen an Täglich grüßt das Murmeltier aus, den alten Schinken, in dem der Hauptdarsteller, ich komme gerade nicht auf seinen Namen, einen ganz bestimmten Tag wieder und wieder erlebte. Bei mir war es wohl der Nasentag. Pit schienen dieselben Erinnerungen heimzusuchen, denn er rief Glatze ein „Schon gut, Franz, kein Problem“ zu, was Glatze zu beruhigen schien, denn er hielt den Mund. Was eine verdammt schlaue Entscheidung war, wenn sie ihn auch nicht vollständig retten würde.
Aber für den Moment ignorierte ich Glatze und sagte, „Steht nirgendwo, ehrlich“, was mir leicht viel, ich hatte mich mittlerweile an die Lügerei gewöhnt. „Also, Pit, wie viel Uhr?“
„Irgendwas nach acht“, sagte Pit, „ne viertel Stunde haste noch“, und deutete auf mein Glas. „Noch einen also?“
Wie gesagt, Pit kannte die für seinen Job entscheidende Frage, wenn er auch zusätzlich zu seinem bescheidenen Geist ein schlechtes Gedächtnis zu haben schien. War mir bislang nicht aufgefallen.
„Habe ich das nicht bereits zweimal gesagt?“
„Haste?“ Er grinste. „Also, noch einen? Sicher?“
Im Gedanken an Wilke, diesen alten Schwätzer, überraschte ich mich selbst und schüttelte plötzlich den Kopf. Wilke mochte es nicht, wenn ich trank, bevor ich zu ihm kam. Damit meine ich, Wilke mochte es generell nicht, wenn ich trank. Nicht, dass es ihn etwas anginge, aber Wilke hatte sich trotzdem eine Meinung gebildet und wies mich bei jedem unserer Gespräche darauf hin, die Trinkerei würde jemandem wie mir nicht bekommen. Genau wie Pit war ich da anderer Meinung, aber Pit war, genau wie ich, in dieser Angelegenheit befangen. Und Pit, das nur nebenbei, hatte natürlich auch keine Ahnung, zu wem ich da ging zwei Mal die Woche um stets dieselbe Uhrzeit als Teil des von meinem Dienstherrn verordneten Gesamtpakets Endstation. Und Pits jetzt breites Grinsen zeigte mir nicht nur, dass ihm oben rechts der Zweier fehlte, womit ich nichts zu tun hatte, isch schwörs, sondern dass er diesbezüglich auch auf der völlig falschen Fährte war. Was vermutlich aus dem Standort seiner Kneipe resultierte, in fußläufiger Entfernung zu einem polizeibekannten Bordell.
Ich steckte zwanzig Euro unter mein Glas und sagte irgendwas von morgen. Pit sagte was von nachher.
Im Vorbeigehen schlug ich Glatze freundschaftlich die Hand auf die Schulter, direkt auf die drei Sterne an seinem Lederblouson und sagte, „Bis morgen, Glatze.“ Weil Glatze ausgerechnet dann sein Glas anhob, verschüttete er sein Bier, aber dafür konnte ich nichts. Trotzdem verlangte er von mir lautstark Ersatz und dazu eine Entschuldigung, was ich beides mit einem freundlichen Lächeln ablehnte.
„Du bisn Arschloch, Schick, weißt du das? Du bis kaum sechs Wochen bei uns, und wir alle wissen das. Und eines Tages, nicht mehr allzu lange weg, tus du auf die Fresse kriegen. Is so sicher wie meine Pension.“
Ich bot Glatze an, das Problem, das er mit mir zu haben schien, gleich jetzt aus der Welt zu schaffen, hinten im Hof. Wie er von Pit wusste, hatte ich ja noch eine viertel Stunde Zeit, und der Hof war dunkel, so dass uns niemand sehen würde, und auf dem Asphalt im Hof lag eine dicke Schneeschicht, so dass er weich fiele. Ich hatte schon meine nagelneue und ziemlich teure Daunenjacke ausgezogen, aber Pit zwängte sich dazwischen mit einem frischen Pils für Glatze „Geht aufs Haus“ und einem „Rausjetz“ für mich und, ganz entgegen meiner neuen Natur, akzeptierte ich.
Was gut für Glatze war. Und für mich, denn Wilke hätte es herausgefunden und mir dann womöglich, wie bereits mehrfach angedroht, auch ein Rausjetz zugeworfen. Und das wollte ich nicht riskieren. Denn Wilke war mein, aber das ist natürlich längst kein Geheimnis mehr, Wilke war mein Irrenarzt, und tatsächlich brauchte ich ihn mehr denn je.
Hier, ich habs gesagt: Ich brauchte Wilke.
Tja, und dann machte ich mich mit röchelndem Atem durch Dunkelheit und Schneegestöber auf zu Wilke, und was muss ich von ihm hören?
2
„Es tut mir leid, Herr Schick.“
„Ah, kommen Sie, Wilke. Das können Sie nicht machen. Das ist Scheiße.“
Konrad Wilke, wie ich es seit sechs Wochen von ihm kannte, senkte den Kopf und sah mich wieder über den Rand seiner randlosen Brille hinweg an. Wie ein verdammter Lehrer. Oder, schlimmer, ein Pastor.
„Habe ich Sie nicht gebeten, hier bei mir keine solchen Ausdrücke zu verwenden, Herr Schick?“
„Haben Sie mir nicht gesagt, dass ich bei meinem Irrenarzt alles sagen darf?“
„Und mich nicht Irrenarzt zu nennen? Und nicht zu trinken, bevor Sie herkommen? Am besten gar nicht zu trinken?“ Wilke machte dabei eine Trinkbewegung mit der ein imaginäres Glas haltenden Hand in Richtung seines Mundes und schüttelte dann den Kopf, als wäre mein Deutsch so schlecht, dass die Kommunikation mit mir der visuellen Unterstützung bedurfte. „Sie sind also wirklich der Meinung, ich kann mit meinen zweiundsiebzig Jahren immer noch nicht in Rente gehen?“
„Zweiundsiebzig? Sie sehen viel jünger aus, Wilke. Höchstens wie sechzig. Und niemand geht heutzutage mit sechzig in Rente. Feuerwehrleute vielleicht, aber sonst niemand. Piloten der Lufthansa gehen mit dreißig oder so. Aber sonst wirklich niemand.“
Wilke wischte sich mit beiden Händen durchs Gesicht, und mir brach der Schweiß aus bei dem Gedanken, den einzigen Halt in meinem derzeitigen Leben zu verlieren. Was sollte aus mir werden ohne ihn?
„Warum jetzt, Wilke? Wir machen doch gerade so gute Fortschritte. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich wirklich das Gefühl, dass mich jemand versteht. Und jetzt verduften Sie.“
Wilke zog die Brille ab und warf sie auf den schweren Holzschreibtisch zwischen ihm und mir. „Sie narren mich doch wieder.“
„Ist das eine Frage oder eine Feststellung?“
„Sagen Sie‘s mir, Herr Schick.“
„Ich denke, Sie sollten Ihre Brille nicht werfen, bei randlosen Modellen splittern gerne mal die Gläser, und das wird teuer. Sehen Sie, wie besorgt ich um Sie bin? Ich bin wieder fähig, mich um andere zu kümmern, und das verdanke ich Ihnen. Ist das nicht ein Fortschritt? Ein großer Fortschritt? Also, ich würde das sogar einen riesengroßen Fortschritt nennen, Wilke.“
Wilkes Zeigefinger zuckte auf die Akte, neben der seine Brille gelandet war, und mir war klar, was jetzt kam. „Fortschritt, Herr Schick? Zwölf Mal haben Sie bislang hier in diesem Stuhl gesessen. Die ersten acht Male haben wir über das Wetter und unseren unterschiedlichen Musikgeschmack und meine Ausbildung gesprochen, die mich Ihrer Ansicht nach nicht einmal dazu qualifizierte, Sie nach der Uhrzeit zu fragen. Vor-“
„Das habe ich so nicht gemeint, ich hab das nur gesagt, weil ich ja gar keine Uhr trage und immer Pit fragen-“
„Vor zwei Wochen haben Sie mir verraten, dass Sie Anna vermissen. Wer das ist und warum Sie Anna vermissen, haben Sie allerdings für sich behalten. Wie haben Sie gesagt? Geht Sie nichts an, Wilke. Und vergangene Woche endlich waren Sie so freundlich mir zu verraten, was Sie beruflich machen. Was kam heraus? Sie arbeiten bei der Kriminalpolizei. Der Kriminalpolizei. Bis dahin habe ich geglaubt, Sie wären Angestellter bei der Stadtverwaltung. Und-“
„Stadtverwaltung?“
„Bauamt. Und in der vergangenen Sitzung, bei einem Gespräch spät am Abend natürlich, genau wie jetzt, genau wie immer, Sie kommen schließlich nur in der Dunkelheit her, weil Sie nicht gesehen werden wollen, stimmts? Denn genauso wenig, wie Sie sich Ihrem eigentlichen Problem stellen, stellen Sie sich der Tatsache, dass Sie Hilfe benötigen. In der vergangenen Sitzung also haben Sie mir dann Ihr großes Geheimnis anvertraut: dass Sie zu mir kommen, weil es in Ihrem Leben ein Ereignis gegeben hat. Ein Ereignis.“ Wilke sagte, „Das nennen Sie Fortschritt?“
„Na ja, Sie sind der erste, dem ich von dem Ereignis in meinem Leben erzählt habe, Wilke. Ich-“
„Sie haben mir nicht von dem Ereignis erzählt, Herr Schick, Sie haben nur gesagt, dass es ein Ereignis in Ihrem Leben gegeben habe. Ich weiß nichts über dieses Ereignis. Nichts. Wie soll ich Ihnen denn helfen, wenn Sie mir nichts erzählen? Wenn Sie nicht einmal bereit sind, sich dort drüben auf die Couch zu legen, so dass Sie ein wenig entspannen und ich auch und wir endlich, endlich ein richtiges Gespräch führen können?“
„Ihre Couch ist zu weich, das ist nichts für meinen Rücken.“
„Und dann zwingen Sie mich auch noch, Ihnen Einblick in meine“, jetzt schlug Wilke mit seiner kleinen Faust auf die Akte, „Notizen zu geben. Das geht nicht. Das sind meine Notizen!“
„Nur weil Sie gerade sagten, Sie haben die Praxis verkauft und Ihr Nachfolger würde sich zukünftig um mich kümmern. Da wollte ich wissen, was Sie über mich aufgeschrieben haben und ihm weitergeben. Verständlich, oder? Wieso eigentlich Bauamt?“
„Was ich ihr weitergegeben habe“, sagte Wilke. „Ich habe eine Nachfolgerin, wie ich vorhin bereits erwähnte, Frau Doktor Fritz-Sonnemacher. Und welche-“
„Wie heißt die? Fritz ohne Macker? Wollen Sie mich verkackeiern, Wilke?“
„Fritz Sonnemacher. Doppelname. Und ich will Sie keineswegs ... narren. Welche tieferen Erkenntnisse also-“
„Aber Fritz ist doch ein Jungenname, Wilke. So rufen die Mamas immer quer übern Hof, Fritz, Fritzchen, komm rein essen, es gibt Kartoffelpuffer, die aus der grünen Packung, die magst du doch am liebsten, Fritzchen.“
„Herr Schick ...“ Wilke schüttelte den Kopf und guckte jetzt traurig wie ein alter Hund im Tierheim, den niemand mehr haben will. „Doppelnachname. Fritz ist ein Nachname und Sonnemacher ist ein Nachname. Sie hat geheiratet, seitdem heißt sie Fritz-Sonnemacher.“
„Wie hieß sie denn vorher? Fritz oder Sonnemacher?“
„Das ... uhm, weiß ich nicht. Herr Schick, was ich sagen wollte, welche Erkenntnisse über Sie soll ich ihr denn schon weitergeben? Dass Sie die Dunkelheit mögen und Johnny Cash hören und ... Wie heißt diese Gruppe? Dass Sie ständig trinken und irgendeine Anna vermissen und eine Abneigung haben gegen den Winter im Allgemeinen und Winter an der Mosel im Besonderen?“
„Eine Abneigung, die wir teilen, Wilke, deshalb passen wir beide-“
„Genau, die wir teilen, und deswegen steige ich auch übermorgen in einen Flieger, knabbere französischen Käse in der Businessklasse und lege mich auf einer thailändischen Insel in die Sonne. Und dort werde ich bleiben und meinem Bauch beim Braunwerden zugucken und erst dann zurückkommen, wenn ich mich nach dem deutschen Winter sehne. Also nie.“
„Ich gebe Ihnen eine Woche, dann fangen Sie an sich zu langweilen. Nach einem Monat denken Sie an Selbstmord.“
„Haben Sie schon einmal an Selbstmord gedacht, Herr Schick?“
Uh, Wilke, du kleiner Schelm. Willst mich überrumpeln. Aber ich ließ mich nicht überrumpeln und sagte nur, „Ach, Wilke, ich bin doch Polizist, ich darf niemanden ermorden.“
„Ich nehme mein kleines Notebook hier mit“, sagte Wilke mit einem Kopfnicken, „und schreibe meine kuriosesten Fälle auf aus fast fünfzig Jahren psychotherapeutischer Praxis in einer kleinen Großstadt zwischen Eifel und Hunsrück. Wollte ich die ganze Zeit schon machen. Danach-“
„Kleine Großstadt zwischen Eifel und Hunsrück, hey, Wilke, kennen Sie den schon? Wäre die Welt ein Arsch, Trier wäre das Loch.“ Ich grinste ihn an.
„Sehr schön, Herr Schick. Also, danach werde ich mit dem Buch durch Talkshows tingeln und es wird ein Nummer Eins Bestseller.“
„So, Nummer eins Bestseller. Gibt es denn auch Nummer Zwei Bestseller?“
„Vermutlich.“
„Werde ich darin vorkommen?“
„Kuriose Fälle, habe ich gesagt. Wenn ich Sie mit ins Buch nähme, würden die Seiten leer bleiben. Das ist für den Leser langweilig. Also nein.“
„Warum Bauamt, Wilke?“
„Weil da bekanntermaßen am meisten getrunken wird, natürlich. Und da Sie jeden Abend mit einer beträchtlichen Fahne ... Wie sollte ich da nicht auf Bauamt kommen?“ Wilkes Schultern zuckten.
„Ich wurde überfallen und niedergestochen.“
Warum ich das sagte, ich wusste es nicht. Ein bisschen vielleicht in der Hoffnung, Wilke doch noch zum Hierbleiben zu überreden. Vielleicht hatte ich aber auch nur das Gefühl, ihm das zu schulden.
Er sagte, „Überfallen?“
Ich nickte.
„Und ... niedergestochen?“
Ich nickte noch einmal.
„Sie wurden also ... verletzt? Schwer?“
Ich schloss für einen kurzen Moment die Augen. Ich war mir immer noch nicht sicher, ob ich nicht doch das Ereignis hätte kommen sehen müssen, ich meine wirklich müssen, schließlich war ich Polizist und grundsätzlich aufmerksamer gegenüber meiner Umgebung als andere.
„Herr Schick?“
Aber an dem Abend, das ist meine Entschuldigung, war ich nicht so ganz bei der Sache. Ich brauchte eine Pause. Von meinen Kollegen, von meinen Kumpels, vor allen aber von meiner Frau. Daher war ich ins Kino gegangen. Allein. Retroabend im Cineplex. Vom Winde verweht, die Langfassung von 1939, vier Stunden mit Vivien Leigh und Popcorn, aber den gesalzenen, die anderen esse ich nicht. Gut, um über das Leben nachzudenken.
Und was kommt dabei heraus?
„Zehn Tage Intensiv“, sagte ich zu Wilke. „Vier Tage im Koma. Ein Stich landete in der Leber, einer im rechten Lungenflügel, einer im linken.“
„Oh.“
„Deswegen kann ich mich auch nicht auf Ihre Couch legen, Wilke. Ich hab da nicht gelogen. Mein Rücken.“
„Oh ... ja.“
„Also, Wilke, bleiben Sie?“ Ich guckte ihn an, so freundlich ich konnte.
Er sagte, „Nein.“
Und wieder einmal war Schick innerhalb eines Augenblicks von scherzend zu todernst gewechselt, und Wilke sah erneut den harten Blick seines Patienten auf sich.
Ich wurde überfallen und niedergestochen.
Eine entscheidende Information. Schick hatte also ein Trauma erlebt, und ganz offensichtlich hatte er mit der Bewältigung dieses Traumas keinen Erfolg gehabt. Jetzt haben sie sechs Wochen vergeudet. Mist. Traumatherapie war eines seiner Spezialgebiete.
Schick war eine der verschlossensten Personen, mit der er es je zu tun hatte, privat oder beruflich. Und er, Wilke, hatte bei ihm total versagt. Sicher, er hatte nur sechs Wochen mit ihm gehabt, wenig Zeit, sehr wenig und doch ... Er gestand sich ein, dass der Polizist der letzte der drei Gründe war, weshalb er schließlich so schnell seine Praxis aufgab. Dass er zweiundsiebzig Jahre alt war und vor einem Jahr die Liebe seines Lebens verloren hatte, waren die beiden anderen.
„Es tut mir leid, Herr Schick. Mein Entschluss steht fest.“
Er sah Schick nicken, ein Mal, zwei Mal, und sich dann entspannen. Als würde er es jetzt akzeptieren. Winzige Zeichen nur, ein schnelles Zucken um die Augen, das seinen Blick weicher werden ließ, das Strecken und Knacken des kleinen Fingers der linken Hand, mehr gab er nicht preis. Schick hatte seine Gefühle im Griff. Und dazu war Schick unvergleichlich darin, sein Gegenüber am Reden zu halten, selbst wenn der es nicht wollte. Wilke hatte es bei den Sitzungen oft genug am eigenen Leib erlebt. Für jeden, der etwas zu verbergen hatte, war Schick ein gefährlicher Gesprächspartner.
Das war etwas, was nicht in der Akte stand.
Er würde seine Nachfolgerin mündlich informieren. Auch über den Überfall. Und hoffen, dass Schick ihm das nicht übel nahm und eines Tages an seinem Strand auftauchte.
„Wenn Sie mit meiner Nachfolgerin nicht arbeiten wollen, Herr Schick ... Das ist natürlich Ihre Entscheidung. Aber Frau Doktor Fritz-Sonnemacher-“
„Hat einen Doppelnamen, Wilke, was bedeutet, sie hasst mich alleine deswegen, weil ich im Stehen pinkeln kann.“
„Sie hat eine hervorragende Ausbildung und viel Erfahrung, Herr Schick, und ohne Zweifel keinerlei Vorbehalte gegenüber Männern. Also, geben Sie ihr eine Chance. Geben Sie sich eine Chance.“
Und dann bekam Wilke eine Antwort, die er nie und nimmer erwartet hätte.
„Eine Frau“, sagte Schick.
Wilke ließ sich seine Überraschung nicht anmerken.
Eine Frau.
Die zweite wirkliche Information über den Patienten, dessen Vornamen er auch nach sechs Wochen nicht kannte.
Waren das spontane Antworten? Ich wurde überfallen und niedergestochen und Eine Frau? Zeichen, dass Schick jetzt bereit wäre, zu reden und die Therapie endlich, endlich wirklich zu beginnen?
Wilke überlegte und unterdrückte dann ein Kopfschütteln. Nein, keine spontanen Antworten. Keine Zeichen. Es war vielmehr der gerissene Versuch Schicks, ihn zu ködern. Ihn, den Therapeuten, für sich einzunehmen.
Und verflixt, es funktionierte.
Er nahm seinen Notizblock. „Erzählen Sie mir von dem Überfall auf Sie.“
Aber Schick schwieg.
„Ich habe Zeit, wir können noch die ganze Nacht reden. Wenn Sie mir von dem Überfall erzählen, einfach erzählen, was passiert ist und wir danach genau an diese Emotionen rangehen, die Sie ja haben, von diesem Ereignis haben, gemeinsam, Sie sind hier nicht alleine, wir machen das gemeinsam und Sie dann auch Widerstandsfähigkeit entwickeln und nicht mehr, zum Beispiel, den Alkohol zur Hilfe brauchen. Was meinen Sie?“ Wilke wartete. „Der Überfall?“
Aber Schick schwieg weiter.
„Herr Schick, vielleicht dann, würden Sie denn von sich sagen, dass Sie Probleme mit Frauen haben? Nicht mit Frauen, die sich für einen Doppelnamen entschieden haben natürlich, das war ja ein Witz ... also, das hoffe ich zumindest.“ Er sagte, „Das war doch ein Witz, oder?“
Jetzt stand Schick auf.
„Herr Schick, aber mit Frauen. Würden Sie von sich sagen, Sie haben mit Frauen ein Problem?“
„Wir werden sehen. Das heißt, ich werde es sehen. Sie werden dann ja bereits in Thailand am Strand liegen, den jungen Dingern auf den Hintern starren und darüber nachdenken, ob Sie kopfüber von einer dreißig Meter hohen Palme springen oder doch lieber nachts ins Meer steigen.“ Schick öffnete die Tür. „Aber Sie müssen da nicht alleine durch, Wilke, auch für jemanden wie Sie gibt es Hilfe.“
„Hilfe ... Wieso ...?“
„Machen Sie es gut, Wilke.“
„Aber, Herr Schick, warten Sie, warten Sie doch, was soll ich denn meiner Nachfolgerin sagen?“
Konrad Wilke löschte das Licht und drehte den Stuhl, zog die Schuhe aus und legte die Füße auf den heißen Heizkörper unter dem Fenster. Es war nach Mitternacht, und seit Stunden trieb der Wind die Schneeflocken vor sich her, er sah es deutlich im Licht der beiden Straßenlaternen.
Die letzte Kiste war gepackt. Zeit, zu gehen. Der ewige Sommer wartete. Sie hatten sich das vor vielen Jahren zum ersten Mal überlegt, Martha und er, Thailand oder Vietnam, nicht Singapur, das war zu teuer, oder vielleicht die Philippinen, Malaysia. Nach einigen Reisen in der Region war es dann Thailand geworden. Aber sie hatten zu lange gewartet. Die Krankheit kam, dann das Sterben, dann der Tod.
Er hatte seitdem auch immer wieder an seinen eigenen Tod gedacht, nicht nur den natürlichen, der unweigerlich irgendwann kommen würde, sondern auch an einen früheren freiwilligen Tod. Wie konnte Schick das erkannt haben? Als Therapeut hatte er wie bei allen seinen Patienten auch Schick gegenüber die eiserne Regel beachtet, nichts über sich zu erzählen. Schick wusste von ihm also noch weniger als er von Schick, und doch hatte Schick nicht nur die Selbstmordgefährdung seines Therapeuten erkannt, sondern ihm auch den einzigen Ratschlag gegeben, den man einem Therapeuten geben kann: Sie müssen da nicht alleine durch, auch für Sie gibt es Hilfe.
Oder hatte Schick wieder nur einen seiner sarkastischen Witze gemacht?
Er hatte sich bei Schick bedankt. Für den Ratschlag. Und weil Schick ihm doch noch etwas über sich erzählt hatte und ihm damit zu verstehen gab, dass die vergangenen sechs Wochen nicht völlig für den Mülleimer waren.
Er, der Therapeut, bedankte sich bei seinem Patienten. Sollte es nicht andersherum sein?
Als sie sich vor seiner Tür die Hand schüttelten hatte er die Angst in Schicks Augen gesehen, Angst und pure Verzweiflung.